Von Alfred Kubin über die Wiener Secession zu Florentina Pakosta: In Österreich war die Druckgrafik schon immer ein Treiber progressiver Kunst.
Ein gigantischer Knochenmann überragt eine Winterlandschaft. Das Riesenskelett leert einen Sack über einem Bauernhof aus; unheilvoll rieselt der schwarze Inhalt auf das schlafende Gehöft. Das Bild „Epidemie“ stellt nur eine der Todesszenerien dar, die der österreichische Künstler Alfred Kubin während einer Lebenskrise 1900 zeichnete.
Grusel auf Papier: Alfred Kubin
Totenköpfe, Mischwesen und grausame Frauenfiguren bevölkern sein albtraumhaftes Frühwerk, für das Grafikzyklen wie Francisco de Goyas „Schrecken des Krieges“ oder die „Schwarzen Bilder“ von Odilon Redon Pate standen. Wie sehr der heimische Grafiker heute international geschätzt wird, bewies zuletzt der Auktionsrekord von über einer Million Euro, der 2019 – also noch vor Coronakrise – für die Tuschezeichnung „Epidemie“ erzielt wurde.
Faksimiles, Grafikzyklen und Mappen
Kubin wäre als junger Zeichner wohl kaum so schnell bekannt geworden, hätte nicht ein Münchner Verleger Faksimilies seiner Schreckensbilder produziert. Später erkannte er selbst das Potential der Lithografie und schuf zahlreiche Grafikzyklen, die als Mappenwerke aufgelegt wurden. Dafür musste der zurückgezogen auf Schloss Zwickledt in Oberösterreich lebende Künstler jedoch keine Drucksteine wuchten. Er verwendete vielmehr spezielles Umdruckpapier, das er an professionelle Lithografen weitergab. Kubin schuf auch Illustrationen für Bücher von Edgar Allen Poe, Fjodor Dostojewsky oder E.T.A. Hoffmann.
Japan als Vorbild: Wiener Secession
Um die Jahrhundertwende entdeckten auch die Wiener Secessionisten mit dem Holzschnitt eine der ältesten Drucktechnik für sich: Der Holzschnitt, der bereits Albrecht Dürers Renaissancekunst Breitenwirkung bescherte, kam in Mode. Bedeutsam für dieses Revival war nicht zuletzt die Kunst Japans, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt in den Westen gelangte. Die Secession widmete Nippons Farbholzschnitt bereits 1900 eine eigene Ausstellung, die viele ihrer Mitglieder inspirierte. Gustav Klimt interessierte sich für die Masken des No-Theaters und für erotische „shunga“-Drucke. Sein weniger bekannter Kollege Emil Orlik studierte die Kunst des „ukiyo-e“ bei einer Ostasienreise 1901 und gab sein Wissen später in Kursen weiter
Holzschnitt um 1900: Carl Moll, Broncia Koller-Pinelle, Franz von Zülow
Die alte-neue Technik brachte eine neue Sensibilität für Linie und Fläche, Vorder- und Hintergrund mit sich. Die Secessionszeitschrift „Ver Sacrum“ widmete dem Wiener Farbholzschnitt etliche Ausgaben. Wie die Schau „Kunst für alle“ 2016 in der Frankfurter Schirn zeigte, entstand so in Wien noch vor den deutschen Expressionisten eine reduziert-moderne Formensprache. Jugenstilkünstler:innen wie Carl Moll, Broncia Koller-Pinell oder Franz von Zülow experimentierten oft direkt am Druckstock mit Farbe, Form und Umriss. Die reproduzierbare Kunst gewann durch niedrige Preise an Popularität.
Alte Technik neu gedacht: Wiener Werkstätte und Ernst Fuchs
In den 1920er-Jahren unterrichtete die neue Kunstgewerbeschule Drucktechniken und die Künstler:innen der Produktionsgemeinschaft Wiener Werkstätte entdeckten die Vervielfältigungstechniken für Grußkarten und Gebrauchsgrafik. Nach 1945 wurde die „Wiener Schule des Phantastischen Realismus“ durch ihre in hoher Auflage reproduzierten Werke beliebt. Deren berühmtester Vertreter Ernst Fuchs orientierte sich stilistisch an alten Meistern wie Matthias Grünewald oder Albrecht Altdorfer. Sein erster Holzschnitt „Selbstportrait“ von 1945 zeigt den während des Nationalsozialismus verfolgten Künstler expressionistisch und mit fratzenhaft elongierter Nase. In den 1960er-Jahren wandte sich Fuchs der feinlinigeren Radierung zu, mit der er Bildzyklen wie „Samson“ oder „Sphinx“ auf Büttenpapier kreierte.
Gegen das Patriarchat: Florentina Pakosta
Eine feministische Position heimischer Grafik würdigte die Albertina 2018 mit Florentina Pakosta. Die Diskriminierung der Frau verarbeitete die 1933 geborene Künstlerin in Kopfbildern, die sie selbst androgyn mit Glatze zeigen. Das männliche Gesicht der Macht griff Pakosta satirisch auf, indem sie Grimassenspiel oder Mensch-Maschinen-Fantasien freien Lauf ließ. In ihren Kreuzschraffuren setzte Pakosta auch maskuliner Weichheit ein Denkmal: Ihre Federzeichnungen „Männliche Genitalien in nicht erigiertem Zustand“ befinden sich heute in der Sammlung der Albertina.