Walter Benjamins berühmter „Kunstwerk“-Aufsatz von 1935 kann uns helfen, die Möglichkeiten KI-basierter Bildproduktion zu verstehen. Zwar liefert Benjamin keine Antworten – doch er lehrt uns, die richtigen Fragen zu stellen.
„Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit:" Walter Benjamins 1935 im Pariser Exil verfasster Aufsatz gehört heute zum Standardrepertoire der Kulturwissenschaft. Inmitten eines instabilen, krisengeschüttelten Europas am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wandte sich Benjamin in seiner Schrift den technischen Veränderungen der Kunstproduktion zu. Sein Interesse galt dabei den damals noch jungen Verfahren von Fotografie und Film, die dabei waren, die Wahrnehmungsgewohnheiten des Menschen von Grund auf zu verändern.
„Der Streit, der im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts zwischen der Malerei und der Photographie um den Kunstwert ihrer Produkte durchgefochten wurde, wirkt heute abwegig und verworren. (…) In der Tat war dieser Streit der Ausdruck einer weltgeschichtlichen Umwälzung, die als solche keinem der beiden Partner bewusst war.“
Walter Benjamin
1935: Ende der Einmaligkeit
Den Ausgangspunkt von Benjamins Überlegungen bildet dabei die Tatsache, dass Kunstwerke durch ihre Reproduzierbarkeit in Film und Fotografie nicht länger einmalig oder ortsgebunden sind. Mit dieser Loslösung aus dem „Hier und Jetzt“ geht nach Benjamin aber auch eine „Zertrümmerung der Aura“ des Kunstwerks einher. Benjamin betrachtet diesen Verlust ohne Nostalgie, vielmehr liegt sein Fokus auf den Funktionen von Kunst, die diese neuen technischen Voraussetzungen nach sich ziehen: ihre Wechselwirkung mit den Massen, die Missbrauch wie demokratisches Potenzial bereithält. Benjamin integriert so Fragen höchster gesellschaftspolitischer Brisanz in seine kunsttheoretischen Überlegungen.
2023: Künstliche Kunstproduktion
Heute erleben wir im Hinblick auf die Bildproduktion einen Wandel von ähnlicher Tragweite. Die Möglichkeit, Bilder von einer „künstlichen Intelligenz“ in derart hoher Qualität generieren zu lassen, dass sie sich von menschlichen Erzeugnissen nicht länger unterscheiden, polarisiert aufs Neue: „Kann das Kunst sein?“, lautet eine häufige Frage – die Benjamin selbst schon vor knapp hundert Jahren als falsch ablehnte. Vielmehr sei es wichtig zu verstehen, wie sich Kunst und Gesellschaft durch die neuen technischen Möglichkeiten verändern. Eine Frage, die auch wir uns heute stellen sollten.KI: Was macht die neue Möglichkeit mit uns?
Wie Benjamins Zeit wird auch die unsere im Wesentlichen von statischen und bewegten Bildern – also den Gegenständen von Benjamins Untersuchungen – getragen. Um sie herum hat sich nicht nur eine Kultur, sondern auch eine neue, ihnen eigene und spezifische „Aura“ entwickelt, die nun erneut zur Disposition steht. Die technische Reproduzierbarkeit eines Bildes, also die Möglichkeit, es beliebig zu vervielfältigen, löste das Original aus seiner Ortsgebundenheit. Durch Fotografie und Lithografie wurde die Mona Lisa auch jenen bekannt, die sie nicht im Louvre gesehen hatten. Die Autor:innenschaft des Werkes sei durch diesen Prozess nicht mehr einem Individuum vorbehalten, vielmehr könne nun die Masse zu Darsteller:innen oder Künstler:innen werden – so Benjamins Gedankengang.
„Eine Intelligenz, die uns auf diese Art berührt, ist ernst zu nehmen. Sie wird Einfluss auf unser Kunstverständnis nehmen.“
Stephanie Graf/Julian Moeller
DALL-E & Co.: Worte werden Bilder
Die Bedienung, auch von bildgenerierender KI, ist sprachbasiert. Beim sogenannten Prompting lassen Stichworte komplexeste Bilder entstehen. Eine Aufwertung der Sprache auf merkwürdige Weise: Während Kunst sich einmal dadurch auszeichnete, etwas in begrifflicher Sprache Unfassbares ausdrücken zu können (Adorno), steht heute ein sprachliches Kommando am Ursprung einer neuen Bildsprache. Die KI realisiert das Sagbare – nicht selten auf überraschende Weise: Ihre Ergebnisse sind oft mehr als eine bloße Übersetzung der Befehle in Bilder.
Das KI-generierte Resultat beeindruckt aber auch durch seine hohe Qualität und die Geschwindigkeit, in der es entsteht. Wer bereits mit KI experimentiert hat, weiß: Manche Bilder, die sie hervorbringt, zeichnen sich durch ein Moment des Unvorhergesehen aus. Sie weisen über die Befehle der Anwender:innen genauso hinaus wie über den Pool, aus dem die KI ihr Rohmaterial schöpft. Sie ziehen durch ein spezifisches eigenständiges Moment – eine scheinbar „eigene künstlerische Handschrift“ – unser Interesse auf sich und stellen mehr bereit, als wir erwartet haben. Sie überraschen, irritieren, fordern unsere Wahrnehmung auf eigentümliche Weise heraus; durch etwas, das der französische Kulturanthropologe Roland Barthes (1915–1980) in seinem Essay zur Fotografie („Die helle Kammer“, 1980) in Anlehnung an Benjamins Aura als Punctum bezeichnet hat. Eine Intelligenz, welchen Ursprungs auch immer, die uns auf diese Art berührt, ist ernst zu nehmen. Sie wird Einfluss auf unser Kunstverständnis nehmen.
„Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst.“
Walter Benjamin
Eine neue Kunstepoche?
Viele verspüren nun den Wunsch, die Grenzen der Kunst abzustecken und zu bewahren, was diese einmal war – ein Gefühl, das unsere Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen ausdrückt, die sich der Kontrolle durch Einzelne entziehen. Gerade die aktuellen technischen Neuerungen treten den Beweis an, dass Kunst schon immer einem Transformationsprozess unterlag. Erst dieser Prozess macht es möglich, so etwas wie kunstgeschichtliche Epochen überhaupt zu definieren.
Wie nun die Zukunft der Kunst aussehen wird, lässt sich nicht prognostizieren. Allerdings können wir von Walter Benjamin lernen, Fragen an diese Zukunft präziser zu formulieren. Wie wird nun also die aktuelle technische Revolution unsere Wahrnehmung und unser Selbstverständnis als Gesellschaft verändern? Wir wissen es nicht. Doch die Algorithmen werden bei der Antwort ein gewichtiges Wort mitreden.
Text: Stephanie Graf / Julian Moeller
Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“
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Walter Benjamin (1892–1940) hat den Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ in verschiedenen Fassungen zwischen 1935 und 1939 verfasst. Erstmals erschien der Text 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung in französischer Übersetzung. Benjamin, wie auch der Großteil der Redaktion der Zeitschrift des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, befanden sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Pariser Exil. Anspruch Benjamins war es, eine „erste“ materialistische Kunsttheorie zu formulieren. Sie sollte den damaligen politischen Entwicklungen, nicht zuletzt dem Aufstieg des deutschen Faschismus, gerecht werden und diese in einen Zusammenhang mit dem Einfluss der Technik auf die Kunst stellen. Benjamins zentrale Überlegung organisiert sich um die Beobachtung einer grundlegenden Veränderung der Kunst und ihrer Rezeption durch die fortschreitende Entwicklung von Fotografie und Film.
Im Besonderen geschieht diese Transformation nach Benjamin durch die Reproduktionsmöglichkeiten dieser neuen Techniken, die wiederum entscheidende Auswirkungen auf die kollektive Wahrnehmung und damit auf die gesellschaftliche Funktion von Kunst haben. Diese Art zu denken war dem Mainstream der Kunst- und Kulturtheorie, von dem sich Benjamin explizit distanziert, fremd. Auch dies ist ein Grund für die späte Anerkennung, die der Essay erst in den späten 1960er-Jahren erfahren hat. Heute kann seine Bedeutung für die moderne Medien-, Kultur- und Filmtheorie kaum hoch genug eingeschätzt werden. Den Volltext der autorisierten dritten (letzten) Fassung können Sie online im Wikisource-Projekt der Wikipedia lesen.