Jede Menge Tipps für Kunstinteressierte hat Lorenz Seidler, Betreiber der Wiener Informationsplattform eSeL.at.
Im Gespräch mit Lorenz Seidler
ARTcube21: Zunächst mal allgemein gefragt: Was zeichnet die Wiener Kunstszene aus? Gibt es eine Art „Markenzeichen“? eSel: Solche Zuschreibungen kann man meist erst mit größerem Abstand treffen. Eine Beobachtung von mir wäre: Artist Run Spaces, Off-Spaces, also Räume, die keine Galerien im klassischen Sinn sind – die sind in Wien sehr stark. Mittlerweile ist Wien schon in der Phase, wo dieser Trend eine gewisse Kommerzialisierung erfährt. Galerien übernehmen das Prinzip des Project-Spaces, der oft in räumlicher Nähe zur eigentlichen Galerie liegt.Spannende Off-Spaces / Artist Run Spaces
- Das independent art space festival und der independent art space index sind ein loser, informeller Zusammenschluss von Kunsträumen, die sich als non-profit begreifen und einmal jährlich zu einem Festival verdichten.
- Einer der Betreiber dieses Zusammenschlusses ist der Non-Profit-Kunstraum Pina im 4. Bezirk.
- Ebenso engagiert: das kuratorische Team vom kevinspace gerade hip werdenden Volkertviertel im 2. Bezirk: Die hier kuratierten Ausstellungen widerlegen den Irrglauben, dass Off-Spaces nur dazu da wären, dass Künstler:innen sich selbst und ihre Freund:innen ausstellen.
- das weisse haus bietet ein ebenso alternatives Ausstellungsangebot aus Kurator:innen-Perspektive und hat ein Residency-Programm mit Künstlerstudios.
- Creative Cluster versammelt im 5. Bezirk nicht nur „Kunst-Kunst-Künstler:innen“, sondern auch Köpfe der Kreativszene.
- Während der Vienna Art Week im November gibt’s beim Open Studio Day geballt Einblick in Künstlerstudios quer über die Stadt.
Welche Form der Kunstpräsentation ist noch typisch für Wien?
eSel: Was wir hier stark haben und was sicher mit den COVID-Lockerungen wieder aufblühen wird, sind Cluster-Öffnungen. Das bedeutet: Mehrere Veranstalter und Spaces tun sich für ein Kunstevent zusammen, irgendwer macht noch eine Installation, und nachher gehen alle gemeinsam was trinken. Klassisches Beispiel: Die Galerien im Schleifmühlviertel ziehen das gerne so durch. Am Ende sitzen dann alle im Anzengruber und tüfteln bei einem Bier weitere Projekte aus. (Anmerkung: In diesem Wiener Künstlerbeisl hängen nicht nur Ölporträts des schnurrbärtigen Wirts an der Wand, es gibt auch das wahrscheinlich beste Schnitzel der Stadt!)
Kunstinteressierten Tourist:innen stellt sich auch die Frage: Wann soll ich nach Wien fahren? Gibt es Wochen oder Monate im Jahr, die sich besonders lohnen?
eSel: Ich würde Frühjahr oder Herbst empfehlen – jeweils nach den Uni-Ferien geht die Kunst-Saison los. Anfang März startet das FOTO WIEN Festival. Ende März bietet die neue SPARK Kunstmesse in der Marx-Halle dann spannende Einzelausstellungen der teilnehmenden Galerien auf einem Fleck. Im Herbst hat sich die Alternativ-Messe Parallel Vienna zum Must-Visit gemausert. Die klassische Kunstmesse viennacontemporary versucht Anfang September im Kursalon im Stadtpark einen Neustart. Und in den Kunstgalerien lockt zeitgleich das Curatedby Festival. Hier richten internationale Kurator:innen Themenaustellungen aus. Dabei lernen sie Wiener Künstler:innen kennen, um ihren Namen in die Welt zu tragen.
Kunstmessen in Wien
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SPARK (24.– 27. März 2022)
Die teilnehmenden Galerien zeigen eine ausgewählte Position aus ihrem Programm: Sehr zugänglich, auch für ein Publikum, das nicht zum Kaufen gekommen ist. Zusätzliche, kuratierte Ausstellungen in der zweiten Halle versammeln ausgewählte Positionen zu Themenausstellungen. -
viennacontemporary (8.– 11. September 2022)
Wiens führende internationale Kunstmesse präsentiert im Kursalon Hübner Newcomer:innen, etablierte Galerien und kuratierte Sonderausstellungen mit Fokus auf Zentral- und Osteuropa. -
Parallel Vienna (6.– 11. September 2022)
Zehn-Jahr-Jubiläumsausgabe der Parallel Vienna: Traditionell füllt diese Messe leer stehende Gebäude mit Leben, heuer erneut die Semmelweisklinik in Wiens 18. Bezirk. Präsentiert werden junge, aufstrebende Künstler:innen ebenso wie etablierte. Vertreten sind hier neben Off-Spaces und Einzelkünstlern auch kommerzielle Galerien.
Was würden Sie Sammler:innen mit auf den Weg geben?
eSeL: Ganz grundsätzlich: Bilder können Wertanlagen sein. Aber für die wenigsten, die sammeln, ist das der Hauptaspekt. Ich bin ein großer Fan von leistbaren Editionen! Natürlich ist das eine künstlich erzeugte Verknappung. (Bei Druckgrafiken auch der Edition ARTcube21 werden z. B. die Druckplatten/Druckvorlagen nach Druck der Auflage vernichtet, um einen Nachdruck zu verhindern, Anm.) Aber zum Einstieg macht es einfach Sinn. Es ist preislich niederschwellig. Und trotzdem finde ich wichtig, dass solche Editionen ihren Preis haben. Warum? Durch das Commitment beim Kauf entwickelt man eine Bindung, ein längerfristiges Interesse an der/dem Künstler:in und wird ihn/sie weiterverfolgen. Das würde ich Sammler:innen auch anraten. Man kauft ja soziale Anteilnahme mit! Das äußert sich auch darin, dass man im Idealfall Geschichten erzählen kann zu den Werken, die man besitzt.
Akademierundgänge
- Ein niederschwelliger Einstieg für Menschen, die Kunst sammeln wollen, sind die Rundgänge durch die Kunstakademien. Zum Semesterende kann man die Diplomarbeiten der Akademie der bildenden Künste besichtigen. An der Angewandten verdichten sich alle Aktivitäten Ende Juni zum Angewandte Festival.
Wenn wir mal über Wien hinausgehen, was wäre ein typisch österreichischer Umgang mit Kunst? Gibt es den?
eSel: Der Stellenwert von Kunst im öffentlichen Raum scheint mir sehr hoch. (Anmerkung: Siehe dazu auch das ARTcube21-Interview mit KÖR-Leiterin Martina Taig)
In Niederösterreich werden schon seit zwei Jahrzehnten immer wieder öffentliche Plätze in Zusammenarbeit mit Künstler:innen gestaltet. Dieses produktive Aufeinanderprallen von Systemen, die sonst wenig miteinander zu tun haben – Stadtplanung, Kunst und angestammte Gewohnheiten der Bevölkerung –, bringt oft erfrischende Resultate.
Letzte Frage: Welche Kunstevents sollte man 2022 nicht verpassen?
eSel: Wir haben den eSeL-Jahreskalender im Jänner gerade frisch gebaut. Mir würde spontan Folgendes einfallen:
Kunstjahr 2022 – Tipps für Wien
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Foto Wien – Festival für Fotografie
Vom 9. bis 27. März 2022 findet die vergangenes Jahr leider verschobene Foto Wien wieder statt. Da mischt sich die Creative Industry mit Fotograf:innen. Die Foto Wien wird vom Kunst Haus Wien veranstaltet und in der Festivalzentrale im Augarten Wien sowie weiteren Ausstellungsräumen in ganz Wien ausgerichtet. Thematischer Schwerpunkt dieses Jahr: wird vom Fotografinnen im Fokus und Rethinking Nature/Rethinking Landscape. -
Biennale di Venezia
Vom 23. April bis zum 27. November 2022 ist in Venedig Biennale. Heuer besonders spannend: Der Österreich-Pavillon, gestaltet von den Wiener:innen Angela Hans Scheirl und Jakob Lena Knebl: ein in die Mode hineinwilderndes, charmantes, genderschlaues Gesamtkunstwerk. -
Ausstellungen
Ai Weiwei – Albertina Modern
Der Erfolg vieler „Blockbuster“-Ausstellungen hängt vom Publikumsandrang ab. Wegen Corona mussten zuletzt aber viele große Ausstellungen abgesagt werden oder hatten nur wenige Besucher:innen. Wenn es nun wieder „normaler“ losgehen darf, wird es spannend, ob die Großen ausreichend Publikum erreichen können, darunter internationale Tourist:innen. Die Albertina ist mit der großen Munch-Schau vorgeprescht, Belvedere wagt Freud-Dali, die Albertina Modern eröffnet z. B. am 16. März eine Ausstellung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Parallel wird er unter dem Titel „In Search of Huuch“ in Linz etwas kuratieren. -
Queere Kunst
Bis Sommer 2022 hat das Queer Museum im Volkskundemuseum Quartier bezogen und gestaltet dort monatlich Ausstellungen über queere Lebensweise und Kunstpraxis. -
Kunst im MuseumsQuartier & auf Wiens Straßen und Plätzen:
Es wird spannend, wie sich das MuseumsQuartier Wien MuseumsQuartier Wien unter der neuen Geschäftsführerin Bettina Leidl entwickelt. Sie hat früher die Kunsthalle Wien geleitet und kennt das Areal auch aus der Innenperspektive der ansässigen Institution und Museen. Außerdem wird es auch heuer wieder einen Kultursommer im öffentlichen Raum geben: Wiens neue Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler setzt sich dafür ein, die Kulturangebote besser über die ganze Stadt zu verteilen.
Weiterführende Informationen: